Klärung der häufigsten Mythen über Autismus-Spektrum-Störung
Kommentar20.08.24 Stephen Brian Sulkes, MD, Golisano Children’s Hospital at Strong, University of Rochester School of Medicine and Dentistry

Wenige Erkrankungen führen zu so viel Aufmerksamkeit — und Kontroversen — wie die Autismus-Spektrum-Störung (ASS), insbesondere bei Eltern kleiner Kinder. Eine unter ASS leidende Person hat Schwierigkeiten, normale soziale Beziehungen aufzubauen, benutzt Sprache nicht normal oder gar nicht und legt ein zwanghaftes und ritualisiertes Verhalten an den Tag. Betroffenen fällt es womöglich schwer, soziale Signale zu verstehen oder sich vorzustellen, was andere Menschen denken könnten, was soziale Interaktionen schwierig machen kann.

Da es sich um ein Spektrum handelt, kann bei Menschen mit ASS eine Reihe von Symptomen auftreten, und die Störung beeinflusst ihr Leben auf unterschiedliche Art und Weise. Infolgedessen sind viele Mythen und Missverständnisse in Bezug auf ASS, die Ursachen und Auswirkungen auf Menschen in verschiedenen Lebensphasen entstanden. Im Folgenden finden Sie sieben der häufigsten Mythen zum Autismus und was Personen mit Autismus und diejenigen, die sie unterstützen, wissen müssen.

Mythos 1: Nur Jungen erkranken an Autismus

ASS tritt in den USA bei ungefähr 1 von 36 Personen auf und ist bei Jungen 4 Mal häufiger anzutreffen als bei Mädchen. Mädchen können jedoch auch an ASS leiden. Eine weitere Erkrankung, die Eltern kennen sollten, ist das Rett-Syndrom, das bei Mädchen viel häufiger auftritt als bei Jungen. Das Rett-Syndrom weist viele Ähnlichkeiten mit ASS auf, zeichnet sich jedoch auch durch einige bemerkenswerte Unterschiede aus. Insbesondere haben fast alle Personen mit Rett-Syndrom in der Regel geistige Behinderungen.

Mythos 2: Alle Menschen mit ASS haben auch eine geistige Behinderung

Geistige Behinderungen und ASS sind nicht das gleiche. Geistige Behinderungen sind bei Personen mit ASS häufiger, aber nicht jede Person mit ASS hat eine geistige Behinderung und nicht jeder mit einer geistigen Behinderung leidet an ASS. Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine weitere Erkrankung, die sich oft — aber nicht immer — mit ASS überschneidet.

Symptome, die mit diesen Erkrankungen in Einklang stehen, zeigen sich typischerweise etwas später im Leben. Für Eltern ist das erste Zeichen, auf das sie achten, eine Verzögerung der Sprachentwicklung. Andere frühe Indikatoren sind repetitives Verhalten, die Notwendigkeit von Routinen und Unterschiede in der sensorischen Verarbeitung rund um Dinge wie Geräusche, Licht und Textur. Aber es ist wichtig zu beachten, dass diese Dinge Anzeichen einer Vielzahl von Erkrankungen sein können. Und bei vielen Kindern sind dies keine Anzeichen für irgendeine Erkrankung.

Mythos 3: „Nerdige“ Kinder und Erwachsene haben ASS

Der Ausdruck „auf dem Spektrum“ wird heute kurz als Beschreibung für eine Person verwendet, die vielleicht nur ein bisschen schüchtern oder sozial ungeschickt ist oder sich intensiv für bestimmte Themen interessiert. Diese Menschen haben oft keine ASS.

Die Pop-Kultur stellt Personen mit Autismus eher als musikalische Wunderkinder oder Mathegenies dar. Manche Menschen mit ASS haben einzigartige Fähigkeiten, aber sie haben keine Superkräfte. Hilfreich ist es, ASS weniger als eine „Störung“ und mehr als eine „Abweichung“ zu betrachten. Manchmal können diese Abweichungen oder Unterschiede in bestimmten Situationen hilfreich sein, aber wir alle sind Individuen mit unseren eigenen einzigartigen Persönlichkeiten und Fähigkeiten.

Gleichzeitig kann eine ASS-Diagnose ein wirkungsvolles Instrument für Einzelpersonen und Familien sein. Es gibt keine Laboruntersuchung zur Diagnose von ASS. Vielmehr basiert sie auf dem Vorhandensein verschiedener Merkmale. Diese Diagnose kann hilfreich sein, wenn Eltern Hilfe und Interventionen suchen, um ihrem Kind die Unterstützung zu bieten, die es braucht, wie beispielsweise Sprachtherapie, Ergotherapie usw.

Mythos 4: Nur Kinder haben ASS

ASS bleibt ein Leben lang bestehen und die Auswirkungen der Erkrankung verändern sich mit zunehmendem Alter. Menschen lernen, mit sozialen Situationen umzugehen, die sich mit zunehmendem Alter weiterentwickeln, darunter etwa die Teenagerjahre und der Einstieg ins Berufsleben, falls sie dazu in der Lage sind. Junge Erwachsene mit ASS benötigen häufig Unterstützung, um sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden. Oft wechseln die Betroffenen von einer Kinderärztin bzw. einem Kinderarzt zu einer Psychiaterin bzw. einem Psychiater, um ihre Behandlung und Medikation fortzusetzen, wenn sie ins Erwachsenenalter kommen.

Mythos 5: Es gibt keine Behandlung für ASS

Ärztinnen und Ärzte wissen noch nicht, was genau die Ursache von ASS ist. Wir wissen, dass die Krankheit bei Geschwistern und Verwandten gehäuft vorkommt, aber sie kann jedes Familienmitglied unterschiedlich betreffen. Es stimmt, dass für Personen mit einer ASS-Diagnose keine spezifischen medizinischen Behandlungen zur Verfügung stehen, die von Ärztinnen und Ärzten empfohlen werden. Es gibt jedoch mehrere bewährte Wege, um Menschen dabei zu helfen, ihre Lebensqualität zu verbessern, darunter verhaltensbasierte Ansätze und Medikamente, die helfen können, Angstzustände und impulsive Verhaltensweisen zu kontrollieren. Personen mit ASS profitieren oftmals von eingeübten Gesprächen oder „Skripten“, um sie in sozialen Situationen anzuleiten.

Häufig suchen Eltern alternative Behandlungen für Kinder mit ASS. Einige dieser Interventionen können schädlich sein. Es ist wichtig, sie zuerst mit einer Ärztin oder einem Arzt zu besprechen und verschiedene Möglichkeiten nacheinander zu versuchen, um sicherzustellen, dass die Wirkung einer bestimmten Intervention bekannt ist.

Mythos 6: Impfstoffe verursachen ASS

Immunisierungen verursachen keine ASS. Es gibt eine Fülle qualitativ hochwertiger Forschungsarbeiten, die den fehlenden Zusammenhang zwischen den beiden unterstützen. Ein wahrscheinlicher Grund, warum dieser Mythos weiterhin besteht, ist, dass viele Eltern beginnen, die Anzeichen von ASS etwa zu der Zeit zu bemerken, zu der ihre Kinder eine Immunisierung für verschiedene Krankheiten erhalten. Trotz dieses Zufalls ist es unerlässlich, dass Kinder die notwendigen Impfungen erhalten, um das Kind selbst und andere vor verschiedenen Infektionskrankheiten zu schützen.

Mythos 7: ASS wird durch schlechte Erziehung verursacht

Seit Jahrzehnten wissen wir, dass eine „schlechte Erziehung“ weder zu ASS beiträgt noch ASS verursacht. Eltern und Betreuungspersonen spielen eine wesentliche Rolle dabei, ihren Kindern zu helfen, erfolgreich zu sein, und sie spielen eine wichtige Rolle dabei, wie ihre Kinder mit der Welt interagieren, aber ihre Handlungen verursachen keine ASS.

Wie jeder von uns ist auch jeder Mensch mit einer ASS einzigartig. Wenn wir Menschen mit ASS dort begegnen, wo sie sind, und Wege finden, um mit ihnen in Verbindung zu treten, geht es uns allen besser.

Weitere Informationen zur Autismus-Spektrum-Störung erhalten Sie auf der Manuals-Seite  oder in den Kurzinformationen  zu diesem Thema. 
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